
Auf den Kopf gestellt wird die Welt von Röcher, als die US-Army mit einem Lkw-Trupp durch Siegen fährt. Er ist siebeneinhalb und hat gewaltige Angst. Doch der Krieg ist zu Ende, die Soldaten schenken ihm ein Päckchen. „Das war wohl die erste Schokolade in meinem Leben“, erinnert sich Röcher. Der Moment hat ihn geprägt: Dass Feinde auch Freunde sein können, dass Völker sich miteinander verständigen können. Es wurde für ihn unvorstellbar, einmal selbst als Soldat mit der Waffe gegen andere Menschen zu kämpfen.

Foto: privat/dpa

|
„Wo zuvor vor allem Frauen tätig waren, wurden jetzt junge Männer mit den sozialen Tätigkeitsbereichen vertraut“, sagt Ansgar Klein, Gründungsgeschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement und Privatdozent für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Erst Schritt für Schritt sei es „zu einer positiven Bewertung der jungen Männer in den sozialen Einrichtungen“ gekommen. Das habe nachhaltige Auswirkungen gehabt und oft auch die spätere Berufswahl die Männer beeinflusst.
Für Karl Röcher war es selbstverständlich, den Kriegsdienst zu verweigern. „Krieg ist die Lösung nicht“, das hat sich dem Jungen aus Siegen 1945 eingeprägt. Die Frage nach Frieden, nach Versöhnung wird ihn sein Leben lang begleiten. Er engagiert sich in der christlichen Jugendorganisation CVJM und erlebt auch dort Diskussionen zum Pro und Kontra in Sachen Wehrdienst. „Lies mal Bonhoeffer“, habe ihm ein Theologiestudent geraten. „Niemals kann die Kirche Krieg und Waffen segnen. Niemals kann der Christ an einem ungerechten Krieg teilhaben“, las er bei dem Theologen, einer Symbolfigur des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.
Als ihm die Einberufung zum Grundwehrdienst droht, stellt Karl Röcher aus Siegen einen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer. Er beruft sich auf das Grundgesetz: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Als „Soldat im Kriege“ einen Menschen „mit unchristlichen Mitten aus dem Wege zu räumen“, das widerstrebe seiner Haltung als Christ, führt er aus. Der Prüfungsausschuss nimmt seinen Antrag an. Im April 1961 wird der Zivildienst bundesweit eingeführt.
Röcher beginnt in Bethel in einer Einrichtung für psychisch kranke Männer. Im Rückblick betrachtet Röcher die Zeit als „eine Schule fürs Leben“. Als ihm vor gut drei Jahren seine älteste Tochter eröffnete, dass sie als Seelsorgerin zur Bundeswehr gehen werde, gab es am Telefon einen Moment der Stille. Dann war vom Vater zu hören: „Das ist eine wichtige Aufgabe.“ Und: „Keine Angst, ich bin kein Pazifist!“